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Zehn Jahre Outsider Art Fair Paris
15.09.2022
Zehn Jahre Outsider Art Fair Paris
Die kommerzielle Außenseiterkunst-Messe bietet Besonderes
Paris (© Text & Foto: Gangolf Peitz, BKS Saar). Art Brut total könnte man zum Jahr 2022 für Europa sagen. Schon im Mai hatte die (nicht-kommerziell konzipierte) Art Brut Hengelo mit weit über 1.000 imposanten Exponaten unzählige Gäste nach Holland gelockt. Dann hält die Kasseler documenta – an anderer Stelle ihrer Darbietungen bekanntlich traurig entglitten – auch so genannte Randgruppen-Kunst vor und für Oktober lädt aus Münster noch das Kunsthaus Kannen der Alexianer-Psychiatrie GmbH zur kleinen aber feinen 2 x 2 Forum für Outsider Art ein.

Einstweilen findet in Frankreich die nunmehr zehnte Ausgabe der OAF Paris statt, die Filialmesse der größeren New Yorker Outsider Art Fair. Dafür hat man sich vom 15. bis 18. September 2022 wieder auf zwei Etagen des Atelier Richelieu im Bourseviertel eingemietet. Nach starken pandemischen Einschränkungen für die Ausführung in den beiden Vorjahren und dem Erfolg der im März ausgeklungenen dreißigsten New Yorker OAF-Ausgabe als Direktveranstaltung im alten Format, ist dieser wichtige (kommerzielle) europäische Termin der so genannten Außenseiterkunst bewusst schon im September. Andrew Edlin, CEO des Veranstalters Wide Open Arts und selbst Art Brut/Outsider Art-Galerist, dazu in einem Medieninterview: “While our energies have always been focused on capturing the Paris art world’s attention at the end of October, art brut and Outsider Art have become more recognized than ever, and we no longer feel the need to position OAF as a satellite fair.” In diesem Zusammenhang wurde betont, dass Outsider Art noch nie so prominent beachtet worden sei wie heute, dank einem Wechsel von Paradigmen und Präsentationsorten. Eine moderne, inklusive Kunst beinhalte heute ganz selbstverständlich Autodidakten-, Außenseiter- und Brut-Kunst, hieß es weiter von WOA.

Neben der Loslösung vom Konzept einer Gegen- oder Konkurrenzmesse zur pompösen altehrwürdigen FIAC-Oktobermesse (Foire internationale d´art contemporain) im Grand Palais – 2019 waren es zuletzt sechs parallele Kunstmessen zur gleichen Zeit in Paris – ist mit der neuen Personalie Sofía Lanusse eine französische Messedirektorin für die OAF an der Seine verpflichtet worden. Bisher kamen diese aus den USA. Die aus Argentinien stammende Lanusse hat zuvor für die ArteBA (Buenos Aires), für die ARTBO in Bogota und für die FIAC gearbeitet. Seit 2019 lebt sie in Paris.



AUTODIDAKTISCHE FOLK ART AUS DER UKRAINE UND PAPE DIOP AUS DAKAR

Wer stellt 2022 nun im Atelier Richelieu aus? Erneut ist es die Mischung aus alten und neuen Adressen internationaler Kunsthändler und Ateliers. 30 Aussteller aus 13 Ländern und 24 Städten sind anzutreffen: Von den Dauerteilnehmern beispielsweise Creative Growth Art Center aus dem kalifornischen Oakland (mit dem autistischen VIP-Künstler Dan Milller), aus Mailand Maroncelli 12, aus Straßburg Galerie J-P Ritsch-Fisch, aus dem polnischen Posen Lue Lu oder Galerie Atelier Herenplaats aus Rotterdam. Ihr Debut gibt die Londoner Gallery of Everything. Stark vertreten heuer Spanien, mit Bilbao Formarte sowie gleich zwei Kunsthändlern aus Madrid. Werke von Hans Krüsi (1920-1995) zeigt die erstmals partizipierende suns.works-Galerie aus Zürich – die einzige Adresse aus dem deutschsprachigen Raum. Galeria Muy aus dem mexikanischen Chiapas repräsentiert Südamerika. Asien und Ozeanien sind in dieser OAF-Auflage nicht vertreten. Besondere Beachtung und hervorgehobenen Respekt erfahren die senegalesische Galerie Yataal Art mit Arbeiten von Pape Diop in einer Solovorstellung, sowie die Rodovid Galerie aus Kiew, mit ihrer Sequenz ukrainischer self taught Folk Art, darunter Bilder der legendären Künstlerin Maria Prymachenko (1909-1997). Das örtliche Museum Halle Saint-Pierre ist mit einer Auswahl seiner Art Brut-Buchhandlung da und auch das weltführende Outsider Art-Fachmagazin Raw Vision aus England gibt´s an einem Zeitschriftentisch direkt.


UNDERGROUND UND SUBKULTUR ALS GESUNDE KUNSTQUELLEN

Gleich zwei kuratierte Sonderausstellungen im Haus ziehen Besucher, Medien, Käufer und Kunstinteressierte umso mehr an. Eine fokussiert sich auf Werk und Leben von Eugene Von Bruenchenhein (1910-1983, Autodidakt aus Milwaukee), die andere beleuchtet unter dem Titel “The Underground is Always Outside” Cartoons und Comics der Subkultur. Parallel sind an verschiedenen Spielorten in der Stadt sieben begleitende Termine angesetzt. Vier davon seien hier erwähnt: Die OAF Talks thematisieren unter anderem Comic-Kunst und Musée d´Art et d´Histoire de l´Hôpital Sainte-Anne in der alten Pariser Psychiatrie läd zu einer Nocturne rund um Corinne Deville ein. Das bulgarische Kulturinstitut hat den Event “Outside the Box” auf der Agenda, worin Visionen in bekannten Art Brut-Werken mit Zeichnungen bulgarischer Patientenkünstler aus den Archiven einer dortigen Psychiatrie kombiniert ausgestellt sind. “Maitères Brut” offeriert 34 Meisterwerke der umfänglichen Privatsammlung des Parisers Bruno Decharme und seiner Frau Barbara, darunter weltberühmte Patientenkunst von Adolf Wölfli (1864-1930) oder von Aloïse Corbaz (1886-1964, die in der Schweiz von 1918 bis zu ihrem Tod in psychiatrischen Anstalten lebte und von dort ein massives Werk an Zeichnungen und Texten in bunter Fettkreide auf Einschlagpapier hinterließ), mit bedeutenden Werken der britischen mediumistischen Madge Gill (1882-1961) oder von der gehörlosen US-Textilkünstlerin mit Down-Syndrom Judith Scott (gest. 2005). Diese Best of-Schau wurde bis November mit der Boutique-Galerie L´Appart Renoma zur Besichtigung vereinbart.



PSYCHIATRIEERFAHRENEN-KUNST IN FRANKREICH LÄNGST ANGEKOMMEN

Ergo nimmt es nicht wunder, dass die Messe mit voraussichtlich einigen tausend Präsenz-Besuchern (plus denen der Online Viewing Rooms) gut frequentiert sein wird. Positiv lässt sich auch das quantitative und qualitative Medienecho in Frankreich an: Zeitungsfeuilletons berichten ausgiebig, neben Fachzeitschriften und einschlägigen Onlinemedien. Mager zeigt sich die Berichterstattung zu dieser zentralen europäischen Kunst-Fachmesse in Deutschland. Fast kein deutscher Journalist war beim Pressetermin zu sehen, kaum ein Beitrag in der deutschen Tagespresse, in Kulturblättern oder Magazinen zu lesen. Auch aus dem Frankreich-nahen Saarland, bei SR und Saarbrücker Zeitung: bislang Fehlanzeige. Vom Outsider Art-Nachrichtenportal Art-Transmitter hat dessen Dortmunder Trägergesellschaft ihren Redakteur nach Paris geschickt, um unmittelbare Eindrücke und Informationen zu sammeln, Gespräche zu führen und online für art-transmitter.de zu berichten. Sein Fazit: Wenngleich Art Brut-Outsider Art – und innerhalb dieses Spektrums gleichwohl Psychiatrieerfahrenen-Kunst – im Wesenskern die andersartige, “unnormale” Kunst darstellt (angesiedelt jenseits von Normen, Märkten, Moden und künstlerischer Ausbildung), so lässt sich sagen, dass selbige in Frankreich längst inklusiv angekommen ist. Ein Paradoxon wird quasi zur sich selbst aufhebenden Realität und Erfüllung: “art outside the art” – um eine Begrifflichkeit von Kunsthistoriker Michel Thévoz zu verwenden – hat dann eben doch den Kunstmarkt als Spartenmarke, hat die Normalität erreicht. Das illustriert die zehnte Jubiläumsausgabe der Pariser Outsider Art-Messe einmal mehr.
 
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