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DES LIEUX POUR EXISTER – Wo zuhause
09.05.2022
DES LIEUX POUR EXISTER – Wo zuhause
Neue Trinkhall-Ausstellung in Lüttich thematisiert Verortung
Sonderbeitrag von Gangolf Peitz (© Text und Foto). Ein Gespräch zwischen zwei Damen, ein Hut, endlose Bibelzitierungen mit darübergezeichneten Drachengebilden, heimelige Käfer in gegrünter Naturkulisse oder ein ausgehöhltes weißes Tongebilde mit versteckten starren Gesichtern: Dies sind nur einige Motive der Bilder- und Skulpturengruppierungen von über 30 Künstler*innen, die in der zweiten Jahresausstellung im Lütticher Trinkhall-Museum für so genannte Außenseiterkunst oder „andere“ Kunst zu sehen sind. Versammelt sind 54 Arbeiten von Kulturschaffenden mit mentalen oder psychosozialen Beeinträchtigungen bzw. mit Psychiatrieerfahrung, vor allem aus Belgien (von Ateliers wie u.a. Créahm Liege, Créahm Bruxelles, La ‚S‘ Grand Atelier Vielsalm, Atelier De Zandberg Harelbeke), aber auch aus vergleichbaren Werkstätten in den USA, Großbritannien, Italien, Australien, Schweiz und den Niederlanden. Aus Deutschland ist eine ältere Arbeit von Willi Begenat aus 1990 von der Diakonie-Kreativwerkstatt in Kernen dabei. Integriert findet man Exponate dreier etablierter belgischer Akademiekünstler, die mit der Ausstellung zusammenarbeiten.


ORTE ZWISCHEN HALT UND HOFFNUNG

„Des lieux pour exister“ reflektiert das Thema menschlicher Verortung. Wo bin ich zuhause? Im Zeitalter vehementer Ströme von äußerer wie innerer Flucht und Entwurzelung, geht’s hier also um eine elementare Erörterung aus Kunst-Blickwinkel. Die vom belgischen Veranstalter behutsam ausgewählten Werke offenbaren Poetik, Notwendigkeit und Sicherheit des Ortes – meines Platzes, von Heimat, Zuhause, vertrauter Verankerung. So ich das Glück habe dies zu haben, mit allem Bewusstsein seiner Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit. Die Schau beleuchtet in weitem Interpretationsbogen die „Places to exist“ und balanciert zwischen Gestern, Heute und Morgen, zwischen Realität und Utopie, Halt und Hoffnung. Der Parterrebereich ist zusätzlich einer ergänzenden halbjährigen monografischen Ausstellung gewidmet, aktuell (bis September) Pedro Ribeiro (geb. 1990), einem Brüsseler Künstler vom Centre Sésame. Ribeiro, der zunehmend das Augenlicht verliert, hat großflächige abstrakte Papier- und Leinwandwerke in eher weniger leuchtendfroher Farbgebung, mitnichten aber depressivem Tonus erarbeitet. Oft bringt er dabei zunächst eine Figur auf den Malgrund, um diese dann bis zur Unkenntlichkeit mit Pastell- und Acrylfarbe zu überstreichen und zu verspateln. Mit Verve und Muskelkraft entstehen Löcher und Risse, die das fertige Bild authentisch und lebensnah machen.

Im Gespräch mit Museumsdirektor Carl Havelange unterstreicht dieser sein Verständnis der von seinem Haus gezeigten Kunst als einer über Umgebung, Verortung und Entstehung definierten „art situé“, im Gegensatz zur oftmals doch vorurteilsbehafteten Vokabel „Outsider Art“. Auch diene man weder der Unterhaltung, noch der Belehrung. Vielmehr sei Trinkhall ein Ort von Beschreibung und mitunter gar des kritischen Widerstands. Es gehe nicht darum, Antworten zu geben. Die gesammelte - das Kunstzentrum beherbergt heute über 3.000 Werke autodidaktisch aus diesen Hintergründen entstandener „anderer“ Kunst -, erforschte, kuratierte und präsentierte Kunst habe ihre eigene starke Kraft, Ausdrucks- und Handlungsfähigkeit. Das Museum versteht Fragilität als Motor und Stärke.


BIBLIOTHEK LÄDT ZUM STUDIEREN EIN

Außenseiterkunst erfährt an diesem Ort profunde Darstellung, Diskussion und Dokumentation. In Belgien ist es normal, dass Ateliers (mit Assistenzen) für beeinträchtigte Künstler*innen vom Kultusministerium oder dem für Internationale Beziehungen gefördert werden und nicht oder primär aus sozial-gesundheitsbezogenen oder psychiatrischen Finanzierungen. Dies entstigmatisiert umso mehr. Ganz selbstverständlich ist auch der Kontakt und Austausch mit den ‚normalen‘ universitären Kunstakademien. Die gesamte Arbeit wird künstlerisch und gesellschaftlich-politisch verstanden. Inzwischen ist nach der Neueröffnung des Hauses 2020 im Avroy-Park und seiner Umbenennung von MADmusée in Trinkhall Museum (an der Stelle einer früheren bürgerlichen Spa-Trinkkurhalle) auch die gut sortierte Bibliothek im Erdgeschoss fertiggestellt und mit über 2.000 Druckerzeugnissen fürs forschende und allgemeine Publikum zugänglich (um Anmeldung bei Bibliothekar Antonin Joyeux unter centredoc@trinkhall.museum wird gebeten). Der Autor nahm sich zwei lohnende Stunden Recherche- und Studienzeit, schlug prägnante Textstellen und Patientenkunstabbildungen in Prinzhorns „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922) in einem vorhandenen Exemplar der 1983er Drittauflage nach, blätterte Outsider Art-Zeitschriftenjahrgänge oder Art Brut-Ausstellungskataloge aus aller Welt durch oder entdeckte bei den Galeriepublikationen aus dem deutschsprachigen Raum selbst einen Reader vom Leipziger Durchblick e.V., mit der Vorstellung seiner bis heute aktiven Psychiatrieerfahrenen-Künstler.


PLACES TO EXIST

Wo kann ich zuhause sein. An welchem Ort, bei wem, mit wem, wie tief in mir .. mit Anker und Antenne? Zu Odyssee, Erkunden, Aufbruch, Ankommen, Freibeutern oder als Arche steht im Eingang des Trinkhall manifest und einladend die Segelschiff-Installation „Le musée idéal“ von Alain Meert – prominenter Künstler im Atelier des ortsansässigen Trägervereins Créahm (Création et Handicap Mental) – für die Neugierigen zum Mitreisen bereit. Gerne auch für diese spannende Ausstellung „Des lieux pour exister“, die bis 5. März 2023 zu besichtigen ist. Im angegliederten sozial-genossenschaftlichen Café-Bistro kann man seinen Besuch angeregt ausklingen lassen.

Trinkhall Museum, Parc d’Avroy, B-4000 Liège. Zu Öffnungszeiten und Eintritt siehe angegebene Website. Führungen sind nach Anmeldung möglich. info@trinkhall.museum, Tel. +32 4 222 32 95


(Der Autor ist freier Journalist und Sozialhelfer, betreibt das Büro für Kultur- und Sozialarbeit Saar. Outsider Art-Kenner, Redakteur u.a. bei art-transmitter.de, Selbsthilfeaktivist. Kontakt: gangolf.peitz@web.de)
www.trinkhall.museum
 
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